Die gewaltsame Verschleppung des alttestamentlichen Bundesvolkes, dessen erneute
Versklavung und die Zerstörung des Tempels zu Jerusalem, all diese Ereignisse werden in nur einem Begriff zusammengefasst – Babylon. Die ehemalige Stadt der Verwirrung der
Sprachen und des Glaubens schickte sich damals an, auch den Bund Gottes anzugreifen. Der Herrscher Babels wählte dabei nicht den religiösen Weg seiner falschen Götter, sondern
die Macht seines Reiches und seines Heeres. Die im Bundesglauben geschwächten und politisch gespaltenen Hebräer waren eine leichte Beute. So erlosch ein Staat, dessen Stärke
einmal seine Liebe und Anhänglichkeit an seinen Gott war.
Deshalb steht Babylon keineswegs für eine geistliche Schwäche des Bundesvolkes oder
für einen Zustand, welcher auf die Kirche in ihrem niedrigen Zustand anwendbar wäre! Babylon ist ein Synonym für jede weltliche Macht, die auf Gewalt ihre Herrschaft gründet.
Dabei ist es unerheblich, ob Einzelne oder Mehrheiten in einer Gesellschaft rücksichtslos und herrschsüchtig Minderheiten oder Mehrheiten bezwingen wollen. Selbst dann, wenn
solche Beherrscher das Recht auf ihrer Seite haben, können sie zurecht als das Babylon unsrer Tage bezeichnet werden. Die wahre Macht hingegen kennt andere Herrschaftsmittel: Rücksichtnahme, Respekt, Gerechtigkeit und Milde. Sowohl der Agnostizismus dieser Tage als auch der Unglaube, welcher die Frage aufwirft – ob es einen Gott gibt –, zeigt nur eines an, dass das Heilige aus unseren Herzen mit allem Weltlichen, das uns umgibt, nicht zu einen ist. Die Säulen der Wirtschaft und des Konsums können ebenso wenig
Gerechtigkeit fördern, wie der laue Geist unserer Zeit. Zwar leben wir darin, ernähren uns mit dem Ertrag unserer Hände und pochen auf unsere Menschenrechte, doch wir werden in
diesem System nicht wirklich satt. Die Ernten erscheinen reichlich und üppig, da immer weniger Menschen hungern müssen. Auch die Lebensumstände ermöglichen es den meisten von
uns, sich durch Versicherungen, Renten und geregelte Urlaubs- und Arbeitszeiten in Sicherheit zu wiegen und einen Wohlstand zu genießen. Doch dem Sinn des Lebens und der
Gesundheit eines sterblichen Leibes hilft es wenig – all das ist nur ein Ertrag, von welchem es im eucharistischen Vordienst heißt: „Kommt nach Babel vom Ende der
Erde! Öffnet seine Speicher, werft alles auf einen Haufen zusammen, wie man Haufen von Korn aufschüttet. Dann gebt es dem Untergang preis; kein Rest soll ihm
bleiben.“ (Jer. 50, 26)
Die Frage, ob es Gott gibt, brauchen wir uns nicht zu stellen. Der Gott unseres
Bundes ist erschienen und wurde von vielen Augen gesehen. Denn Er kam nicht in der Vision einiger Propheten, verborgen und nicht wahrnehmbar, sondern öffentlich und begreifbar.
Wie niemand ernsthaft Beweise für die Existenz der französischen Revolution und für ihre Führer braucht, so brauchen auch wir keine Gottesbeweise. Die Folgen des Aufstands jenes zentraleuropäischen Staates sind zum Selbstverständnis jeder Staatlichkeit im heutigen Europa geworden. Ebenso verhält es sich mit den Folgen der Erscheinung unseres Gottes: der Alte und der Neue Bund ließen Geschlechter entstehen, Märtyrer und Gläubige aller Zeiten, deren Zeugnis ihre Saat sprießen lässt, auch dann, wenn nur ein Rest verbleibt. Von der babylonischen Weltmacht jedoch soll es keinen Rest geben – sie wird verschwinden wie die Macht der Kaiser und Könige oder des kommunistischen Proletariats und seiner Revolution, von denen heute nicht mehr übrig ist als Erinnerungen an üble Zeiten und schlechte Erfahrungen. Statt der Weide der „Gerechten“,
deren Zahl Jesus im Sonntagsevangelium mit hundert angibt, erleben wir im Heiligtum, wie unser Irrweg in der Wüste endet: „Wenn einer von euch hundert Schafe hat und eins
davon verliert, läßt er dann nicht die neunundneunzig in der Steppe zurück und geht dem verlorenen nach, bis er es findet? Und wenn er es gefunden hat, nimmt er es voll Freude
auf die Schultern, und wenn er nach Hause kommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: Freut euch mit mir; ich habe mein Schaf wiedergefunden, das
verloren war.“ (Lk. 15, 4-6)
Ja, mögen wir, die wir mit Gott verbündet sind, abirren,
– seine Barmherzigkeit ist weit größer, und seine Gnade unfassbar. Anstatt uns auf die Weide zurückzuführen, will uns Christus auf seine Schultern nehmen, uns vom Boden
erheben und in sein Haus tragen. Sein Haus ist nicht irdisch und vergänglich, sondern himmlisch und ewig, und die so Emporgehobenen werden dann nicht mehr fähig sein, krank und
schwach zu werden oder zu sterben – im Haus Gottes herrscht Leben in Fülle und eine unbeschreibliche Freude. Es wird einmal keine zwei getrennte Reiche geben, welche
unvereinbar miteinander wären – wie das Himmelreich und die Herrschaft unsrer Zeit –, sondern die Unvereinbarkeit wird überwunden werden von der Einheit der
Liebenden, Gottes und seiner Kinder und Geschöpfe. Und damit dies auch in unserer Zeit erfahrbar sei, mahnt uns der Apostel: „Beugt euch also in Demut unter die mächtige
Hand Gottes, damit er euch erhöht, wenn die Zeit gekommen ist. Werft alle eure Sorge auf ihn, denn er kümmert sich um euch.“ (1. Pt. 5, 6f)
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