Traditionell ist die Lectio divina in der kirchlichen Praxis eine private,
persönliche geistliche Übung, bei welcher außerhalb des gemeinsamen Gottesdienstes ein Abschnitt der Heiligen Schrift mit Andacht gelesen (lectio), darüber nachgesonnen
(meditatio), gebetet (oratio), betrachtet (contemplatio) und unter Umständen auch umgesetzt (actio) wird.
Die Besonderheit unserer Anbetungsdienste ist, dass in ihnen das Wort Gottes nicht
einfach den Gläubigen vorgelesen und darüber gepredigt oder homiliert wird, sondern dass sie als eine gemeinsame öffentliche Lectio Divina gestaltet sind. Denn in ihnen wird das
Wort Gottes vom Propheten, nachdem er die Heilige Schrift zum Altar getragen hat, vor dem HErrn, d. h. ad orientem, also Richtung Osten und vor dem
Allerheiligsten gelesen (lectio).
Sodann kann, je nach Eingebung des Amtspropheten und wenn der Charakter des
Dienstes es zulässt, eine prophetische Mediation in Form eines Wortes der Weissagung o.ä. folgen, welches eben als solche, als Meditation und nicht als Prophezeiung verstanden
und von den befugten Ämtern ausgelegt werden will. Diese Schriftlesung soll mit den Ohren, aber vor allem mit dem Herzen vernommen werden, denn das Herz ist die Stelle im Leib,
an welchem uns die Stimme des Geistes am nächsten ist und wir sie am ehesten vernehmen können.
Mit der Liebe eines kindlich reinen Herzens und mit ebensolchem Vertrauen auf die
gute Absicht Gottes hören wir die göttliche Lesung und tragen sie während des ganzen Dienstes im Herzen: wenn wir dankbar das Siegeslied des Moses und des Lammes singen und
danach unser Taufbekenntnis sprechen, beim Psalmgesang, welcher das gehörte und im Herzen bewegte Wort mit dem Sinn des Höchsten würzt. Aber auch beim Gebetsteil, wenn wir
unsere Bitten, Gebete, Danksagungen und Fürbitten vor den HErrn bringen (oratio): alles was wir beten, flehen und erbitten – es verbrennt einem Räucherwerk gleich,
welches auf den Altar unserer Herzen gestreut wird, auf welchem uns noch immer die Glut des Gotteswortes wärmt, – ob wir es wahrnehmen oder nicht. So verbinden sich der
sichtbare Weihrauch der Großen Fürbitte mit dem geistlichen Weihrauch unserer Herzen zum Wohlgeruch unserer Anbetung. Noch einmal wird danach im traditionellen Lied des Glaubens, dem Hymnus, unser Geist
aufgerüttelt.
Schließlich folgt die Betrachtung (contemplatio),
– keine Predigt, keine langen theologischen Ausführungen, keine vorgefertigten Meinungen – hier weht die Freiheit des Geistes und der göttlichen Eingebung, sei sie
scheinbar noch so klein oder auch größer. Wenn Gott an uns handeln will, dann ist es gerade dieser Dienst der Anbetung und der Fürbitte, welcher uns geistlich wachsen lässt und
uns umgestaltet und fähig macht, neues zu erkennen und zu begreifen, um schließlich zur Actio zu gelangen, nämlich zu solchen Handelnden vor dem Angesicht Gottes zu werden, die
wissen was der HErr tut.
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